Änderung in der IPC: Objective Evidence durch SIR-Tests
In der amerikanischen Norm IPC J-STD-001, dem Basisstandard für Elektronikfertigungen, hat es im Jahr 2020 eine Änderung rund um den Nachweis ionischer Rückstände auf Prozessmaterialien gegeben. In der aktuellen Revision H (09/2020) der Norm wurde festgelegt, dass die Sicherheit von ionischen Rückständen ab sofort durch die so genannte „Objective Evidence“ nachzuweisen ist.
Vor der aktuellen Revision war laut der Norm nur der ROSE-Test verpflichtend, um ionische Rückstände auf Leiterplatten zu bestimmen. ROSE steht für „Resistivity Of Solvent Extract“, also der Widerstand eines Lösungsmittelextrakts der Rückstände. Bei diesem Test durfte der Grenzwert von 1,56 µg/cm² NaCl-Äquivalent nicht überschritten werden. Das bedeutet, dass 1,56 Mikrogramm äquivalent Kochsalz pro Quadratzentimeter der Leiterplatte zulässig waren. Das Problem: Der Grenzwert für den ROSE-Test wurde vor rund fünfzig Jahren etabliert und in der Norm festgeschrieben. Seitdem ist in der Elektronikbranche viel geschehen. Unterschiedliche Prozesse, eine Vielzahl an Materialien und eine immer weiter fortschreitende Miniaturisierung sind dabei nur die wichtigsten Veränderungen.
Aufgrund dessen entspricht dieser Grenzwert heute in keiner Weise mehr den komplexen Anforderungen der Elektronikindustrie. Zudem ist der Wert wenig aussagekräftig, wenn es um das tatsächliche Risiko von elektrochemischer Migration auf Leiterplatten geht. „Der Grenzwert war allgemein festgelegt und galt unabhängig von der Baugruppe, den Bedingungen des späteren Einsatzortes oder der Packungsdichte. Diese Parameter individuell zu berücksichtigen ist aber wichtig, um die Sauberkeit von Leiterplatten bzw. die Sicherheit von ionischen Rückständen beurteilen zu können“, erklärt Nicolas Wiacker, Produktmanager bei Stannol.
Was ist „Objective Evidence“?
Mit der Änderung der Norm wurde ein wichtiger Schritt in Richtung messbarer Sicherheit unternommen, indem nun ein individueller, objektiver Nachweis zur Sicherheit der ionischen Rückstände erbracht werden muss. „Objective Evidence umfasst, dass Elektronikbaugruppen sauber genug sein müssen, um verlässlich während der erwarteten Lebensdauer und der vorgesehenen klimatischen Einsatzbedingungen zu funktionieren. Einen allgemeinen festen Grenzwert gibt es nicht mehr“, betont Wiacker. Was „sauber genug“ bedeutet, hängt dabei individuell von der jeweiligen Baugruppe und deren Einsatzgebiet ab und muss für jeden Fertigungsprozess separat bestimmt werden.
SIR-Test als simulierter Fertigungsprozess
Erreichen lässt sich Objective Evidence primär durch SIR-Tests, bei denen die eingesetzten Teststrukturen den gesamten Produktionszyklus inklusive aller genutzten Prozessmaterialien durchlaufen müssen. Das heißt, der Prozess selbst, die eingesetzten Anlagen und sämtliche Materialien wie Lotpasten, Flussmittel und Schutzlacke müssen in die Betrachtung einbezogen werden. „Wird der SIR-Test unter diesen Bedingungen bestanden, ist die Norm bezüglich der geforderten Objective Evidence erfüllt“, so Wiacker. Die Teststruktur muss dabei die zu prüfende Baugruppe möglichst fertigungsnah repräsentieren – etwa in Bezug auf die verwendeten Komponenten und die Abstände zwischen den Leiterbahnen. Standardmäßig fordert der SIR-Test nach IPC J-STD-004C 168 Stunden, in denen ein Oberflächenisolationswiderstand von 108 Ohm nicht unterschritten werden darf. Bei besonders sicherheitskritischen Elementen, etwa im Bereich E-Automobile, wird die Testdauer im Rahmen von „End of life“-Tests häufig auf bis zu über 1.000 Stunden ausgedehnt.
Equipment zur Bestimmung der Objective Evidence
- SIR-Messgerät
- Klimakammer
- prozessnahe Teststrukturen
- alle eingesetzten Prozessmaterialien
Ablauf SIR-Test
Um die elektrische Sicherheit von Flussmitteln in der Löttechnik zu ermitteln, muss der Oberflächen-Isolationswiderstand (Surface Insulation Resistance = SIR) gemessen werden. Konkret wird dabei der Isolationswiderstand zwischen benachbarten Leitern auf der Oberfläche einer Leiterplatte bestimmt. Die Norm IPC J-STD-004C fordert dazu einen Widerstand von mindestens 108 Ohm, der über einen Zeitraum von 168 Stunden aufrechterhalten werden muss. Währenddessen wird eine Art Worst-Case-Szenario geschaffen: Die präparierten Leiterplatten werden im Klimaschrank bei 40 Grad Celsius und 90 Prozent relativer Luftfeuchte bestromt.
Neuer Test bei Prozessänderungen nötig
Um nach dem bestandenen SIR-Test die Sauberkeit der Leiterplatte zu prüfen, wird im Anschluss ebenfalls eine ROSE-Testung durchgeführt. Das Ergebnis ist wiederum die Grundlage für einen neuen Grenzwert, der dann spezifisch für diesen individuellen Fertigungsprozess festgelegt werden kann. Der dabei erzielte Wert kann höher oder niedriger sein als der alte Grenzwert von 1,56 µg/cm² NaCl-Äquivalent – je nach Einsatzgebiet der Baugruppe. „Sobald im Prozess Änderungen vorgenommen werden, zum Beispiel wenn Bauteile, Lotpasten, Flussmittel oder Schutzlacke ausgetauscht werden, sich das Temperaturprofil signifikant verändert oder die Anlage an einen anderen, externen Standort verlegt wird, muss der objektive Nachweis laut der Norm erneut erbracht und der Test wiederholt werden“, betont der Experte.
Ionenchromatografie zur qualitativen Bestimmung von Rückständen
Als Alternative zur Bestimmung des objektiven Nachweises kann auch eine Ionenchromatografie in Betracht gezogen werden. Dabei werden die ionischen Rückstände auf der zu testenden Baugruppe in einer Flüssigkeit aufgelöst und mittels Ionenchromatografie identifiziert. Der Unterschied zum SIR-Test besteht darin, dass bei der Ionenchromatografie qualitative Verunreinigungen festgestellt werden, während der SIR-Test auf quantitative Verunreinigungen abzielt. Nicolas Wiacker: „Grundsätzlich ist ein SIR-Test zur Bestimmung der Objective Evidence gut geeignet. Eine Ionenchromatografie kann aber Sinn machen, wenn es beim SIR-Test zu Problemen kommt, zum Beispiel, wenn der Test nicht bestanden wird. Mithilfe der Ionenchromatografie kann dann überprüft werden, welche Verunreinigungen konkret vorliegen. Daraus lassen sich dann eventuell Rückschlüsse auf die Quelle der Rückstände schließen, sodass man diese beseitigen kann."
Testen: intern oder extern
SIR-Messungen sind aufwändig: Die Tests müssen sorgfältig vorbereitet und über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden. Die reine Laufzeit eines SIR-Tests im Klimaschrank beträgt mindestens 168 Stunden, häufig aber auch mehrere Wochen. Zusätzlich kommt die komplexe Vorbereitung der Teststrukturen dazu, die zunächst prozessnah nachgebaut werden müssen. Ob die Tests intern oder extern durchgeführt werden, hängt unter anderem von der Menge der benötigten Tests ab. Beides bietet Vor- und Nachteile: „Bei internen Tests stehen erst einmal hohe Investitionskosten für das Testequipment an. Außerdem benötigt man erfahrenes und gut geschultes Fachpersonal, das den Test zuverlässig durchführen kann. Gleichzeitig kann man aber Prozesse schneller anpassen oder Tests wiederholen und hat die volle Kontrolle über die Tests – ohne interne Informationen an Dritte weitergeben zu müssen“, erklärt Nicolas Wiacker.
Externe Labore bieten den Vorteil, dass erfahrene Anwendende für die Tests verantwortlich sind. Nachteile können sein, dass man weniger flexibel ist und auch die Logistik berücksichtigt werden muss: Beim Transport oder längerer Lagerung können die empfindlichen Teststrukturen schnell beschädigt bzw. verunreinigt werden. Die Kosten für ein externes Labor hängen von der Anzahl der zu testenden Strukturen ab. Nicolas Wiacker: „Größere Unternehmen mit vielen oder sich häufig ändernden Prozessen sollten eine interne Testung in Betracht ziehen, während sich für kleinere Unternehmen oftmals aus Kostengründen eher eine externe Prüfung anbietet.“
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